06.12.2023

Freundschaft ohne Worte

Viele unserer Kinder verfügen über keine aktive Sprache, d.h. sie sprechen nicht und verstehen auch nicht. Die erste Frage, die uns als Eltern dann von Außenstehenden immer gestellt wird, ist:  „…aber wie weißt Du denn dann, was er/sie will?“

Sprache ist grundlegend in unserer Gesellschaft, wir kommunizieren mittlerweile fast permanent miteinander. Sprache ist wichtig im Beruf und im Privatleben. Es ist schön und bereichernd, sich über die Sprache auszutauschen und sich im besten Falle nahe und zutiefst verstanden zu fühlen. Und doch: Die wichtigsten und innigsten Momente im Leben kommen ohne Sprache aus: Eltern, die ihr Neugeborenes im Arm halten. Verliebte, die sich in die Augen blicken. Enge Freunde, die in großer Vertrautheit schweigend nebeneinander sitzen. Alte Menschen, die sich still an den Händen halten.

Aber auch uns Eltern von nicht sprechenden Kindern hat es zu Beginn, als wir realisiert haben, dass unsere Kinder vielleicht niemals sprechen lernen werden, große Angst gemacht: dieses Leben ohne Worte. Und wir haben uns vielleicht auch um schöne und wichtige Bereiche des Elternseins betrogen gefühlt, die mit dem „miteinander Sprechen“ einhergehen: die lustige Phase des Sprechenlernens der Kleinkinder, das gemeinsame Entdecken der Welt mit dem Grundschulkind, das Diskutieren mit dem Teenager.

Am Ende ist es jedoch faszinierend zu erleben, wie viel ohne Sprache geht, wie emotional nah man sich nur durch Blicke und Berührungen fühlen, wie man gemeinsam lachen und Quatsch machen kann und wie gut man lernt, sein Kind zu verstehen mit nur einem einzigen kurzen Blick in sein Gesicht, auf seine Körperhaltung. Dieses tiefe emotionale Wissen umeinander kann aber nur durch Nähe und tiefe Vertrautheit entstehen. Darum ist es uns ein so besonders großes Anliegen, dass unsere Menschen mit Behinderung später einmal mit Freunden zusammen leben werden und nicht mit Fremden.

Viele Menschen mit Behinderung lernen über längere Zeiträume und funktionieren über Assoziationen. Julian und Leo sind z.B. Freunde, seit sie zwei und vier Jahre alt sind. Sie haben gemeinsam mit ihren Familien unzählige schöne Momente zusammen erlebt: gemeinsame Besuche von Konzerten, Festen und Festivals, gegenseitige Besuche, lange Spaziergänge, Wochenenden im Baumhaushotel, jährliche Therapiewochen im Schwarzwald mit den gesamten Familienclans über drei Generationen hinweg, gemeinsame Sommerferien mit der Lebenshilfe. Wenn sie einander sehen, lebt die Essenz all dieser schönen gemeinsamen Erlebnisse in ihnen auf: sie fühlen sich sicher, geborgen, vertraut in dem Wissen, dass, wenn sie zusammen sind, etwas Gutes passieren wird.

Sie können nicht miteinander sprechen, oft gelingt es ihnen auch nicht, sich direkt aufeinander zu beziehen – aber sie spüren sich auf einer ganz tiefen, intensiven Ebene, wissen, der andere ist da: „es ist alles gut!“

Jeder und jede von uns kennt das Gefühl, wie sehr es einen zutiefst beruhigt und erdet, wenn ein vertrauter Mensch bei einem ist, gerade auch in neuen oder in Krisensituationen. Wieviel mehr muss einem Menschen diese Nähe und Vertrautheit bedeuten, der nur über „Emotion“ und nicht über Sprache funktioniert und der sich mit seiner Art des Kommunizierens bei fremden Personen oft gar nicht verständlich machen kann?

 

…darum ist für unsere Menschen mit Behinderung das Leben mit Freunden kein „nice to have“, sondern ein „must have“.